Ich war in recht dunkler Vergangenheit ein oder zwei Jahre älter als Dreißig, als ich an einem Fortbildungsseminar teilnahm, zu dessen eigentlich erklärten Thema ich gar keine Erinnerungen mehr habe. Wie auch immer: Die Referentin, eine Dame wohl zwischen circa Fünfundfünfzig und Sechzig, sprach am letzten Tag über das Alter, bzw. über das Altern.
Ihre Rede war eine leidenschaftliche anhaltende Klage (und Anklage!) gegen "die verbreiteten falschen Vorstellungen" über das Altern. Das Altern habe mit Verlusten oder Verfall nichts zu tun. Ganz im Gegenteil: Man reife, man käme zu sich selber, man gewinne an Weisheit und innerer Schönheit, man erreiche seine beste Entfaltung. Ich hörte ihr ganz interessiert zu und wußte, daß sie teilweise durchaus recht hatte. Ich wußte, daß es auch jene von ihr so vehement besungenen, ja beinah stur in aller Leidenschaft hypostasierten Aspekte beim Prozeß des Alterns tatsächlich geben kann; ich wußte um die möglichen Schätze, um das Gold und die Rubinen eines Alt-Werdens. Aber ich wußte auch um den Tod.
Ich wußte also auch um die prodromalen Anzeichen dessen späteren unaufhaltbaren Sieges. Ich wußte auch von Verlusten! Sogar von Verfall. Von Schmerzen und Krankheit. Vom Nachlassen. Vom eventuell Unvermeidbaren auf einer allerletzten Strecke.
Mir war klar: Die gute Frau zelebrierte lautstark hartnäckig ihr "magisches" Abwehr-Arrangement vor dem Sog ihres künftigen, ach so menschlichen eigenen Nachlassens.
"Auch Du, meine Tochter, auch Du wirst herumgerissen...!"
Mir hat diese merkwürdige Begebenheit um die verdrängte und zugleich verleugnete mächtige Panik um "das" eigene Enden seitens jener - für mich inzwischen kraft Vergessens "namenlosen" - Referentin ziemlich viel gebracht: In der Tat seit der damaligen Begegnung habe ich noch intensiver, als es bis anhin bei mir eh der Fall gewesen war, um das Sterben und Verlieren; um das Reifen und Gewinnen; um Nichtigkeit und Größe, sowie Erfüllung und Schmerzen; um das Altern als solches nachgedacht, fortgesetzt sinniert, gelesen, meditativ vertraut entfaltet.
Und heute?
Heute bin ich durchaus einige Wochen älter als damals...
Wie steht 's, wie wirkt 's, wie ist es nun?! Nämlich?!
In etlichen Hinsichten bin ich gebrechlich. Das Multiple Myelom umklammert mich; mein Skelett wurde von ihm, wird von ihm rauh geschwächt, angeknabbert, an manchen Stellen gebrochen; Schmerzen begleiten unerschütterlich - als treue Kumpane - nicht allzu selten meine Stunden. Mein Arbeitsgedächtnis wird brüchig und brüchiger...
Ich bin in den meisten Dingen langsam. Ich werde kleiner. Meine Freunde und Bekannten könnten sterben; sind gestorben; erkrankt; dement geworden; verschollen.
Kein Zweifel: Das ist meine eigene allerletzte Strecke - obgleich noch unbestimmbarer Reichweite.
Und es ist schön.
Es ist meine schönste Zeit. Ohne Wenn und Aber. Ich blühe auf.
Wie denn?! Ich blühe auf...: Was soll das denn...??!! Und doch, es ist so.
Es gibt Aspekte des Verlustes, des Verfalles, der Erschwerung. Und Momente edelster innerer Schönheit. Mein Denken ist reifer und tiefer geworden. Ich lese mit kräftig steigendem Gewinn. Ich schreibe in mancher Sprache so gut wie noch nie. Ich begegne dem Gold und den Rubinen. In der Kontingenz von Verfall und Verlust das Durch-dauern von Erkenntnis und Bejahung.